Vom Hofstaat eines Baumes

Autor: Redaktion Magazin   
Veröffentlicht: 12.05.2012 - 16:56 Uhr
 



Ein Keimling reckt sich aus seiner Samenhülle, streckt sich zum Licht und wächst im Laufe der Jahre zum Baum heran. Doch er bleibt nicht lang alleine. Efeu und Waldreben wurzeln neben ihm im Boden und hangeln sich an seinem Stamm zum Licht empor. Andere Gewächse verzichten ganz auf die Erde und sprießen direkt auf seiner rauen Rinde.

Tödliche Probleme

Auf einem Baum zu wachsen, ist jedoch kein leichtes Unterfangen. Im Sommer werden die Äste der Laubbäume von Blättern beschattet, im Winter sind sie der direkten Sonne ausgesetzt. Wasser und mit ihm alle notwendigen Nährstoffe können nur aus der Luft zu den aufsitzenden Pflanzen gelangen. Besonders gehaltvoll ist Regenwasser, das beim Herablaufen am Stamm Staub und Schmutz mit sich schwemmt. Der Wind sorgt dafür, dass jegliche Feuchtigkeit rasch wieder verdunstet. Nur an wenigen Orten, wie in kleinen Humusauflagen, in Astgabeln oder in abgestorbenem, schwammigem Holz, kann Wasser länger gespeichert werden. An diesen Stellen können sich auch Pflanzen halten, die nicht auf ein Leben im Baum spezialisiert sind. Samenkörner, die zufällig in diesen Polstern landen, können keimen und halten sich oft über Jahre. Neben Farnen und kleinen Stauden können sogar kleine Gehölze Fuß fassen. Nach ein paar Jahren jedoch ist meist Schluss. Die Pflanzen kümmern und gehen ein.

Bunte Vielfalt der Aufsitzer

Pflanzen, die sich darauf spezialisiert haben, auf anderen Gewächsen zu gedeihen, werden Epiphyten genannt. Sie haben sich an die Widrigkeiten des Standortes angepasst. Besonders unter den Algen, Moosen und Flechten gibt es etliche Gruppen, die nur an Bäumen vorkommen. Manche sind sogar auf ganz bestimmte Baumarten angewiesen. Das Kleine Neckermoos (botanisch Neckera pumila) beispielsweise ist vorwiegend auf Nadelhölzern anzutreffen.
Eine wichtige Anpassung ist ihre große Trockenheitstoleranz. Die meisten Moose etwa können selbst vollständige Austrocknung überleben. Steht wieder Wasser zur Verfügung, saugen sie sich wie ein Schwamm voll. Daher ist dickes Moospolster, selbst wenn es noch so verführerisch grün und weich aussieht, kaum der geeignete Platz für eine Rast.
Die Moosrasen werden ihrerseits von Pilzen besiedelt. Manche sind parasitisch, umweben die Pflänzchen mit ihren Pilzfäden und zapfen sie an. Häufig sind diese Attacken für das Moos tödlich.

Erfolgreiche Doppelwesen

Eine andere Verbindung mit Pilzen ist dagegen äußerst gesund. In Flechten bestimmt der Pilz die äußere Form, sammelt Wasser und schützt beide Partner vor zu starker Sonne und Austrocknung. In seinem Inneren leben Grün- oder Blaualgen, die für sich und den Pilz mit Hilfe der Fotosynthese Zucker und andere energiereiche Stoffe bilden. Während die beteiligten Algenarten häufig auch einzeln vorkommen, sind viele der Pilze so auf das Leben als Flechte spezialisiert, dass sie für sich allein unter natürlichen Bedingungen nicht existieren können.
Von den 1700 Flechtenarten in Deutschland leben mehr als 500 epiphytisch auf Bäumen. Viele sind auf alte, vermodernde Bäume angewiesen und durch die intensive Bewirtschaftung der Wälder stark bedroht. Unter ihnen, aber auch unter den Moosen, gibt es zahlreiche Arten, die sehr empfindlich auf Luftverunreinigungen und sauren Regen reagieren. Diese Arten können als Zeigerorganismen dienen – wo sie wachsen, ist die Luft rein. Mancherorts ist die Artenvielfalt durch die fallenden Schwefeldioxidwerte in den letzten Jahren wieder angestiegen.

Leben an der Quelle

Von Algen, Flechten und Moosen geht für den Baum, auf dem sie wachsen, keinerlei Gefahr aus. Andere Pflanzen begnügen sich nicht damit, den Baum als Unterlage zu verwenden. Misteln (Viscum album ssp. album) beispielsweise sind Halbschmarotzer, die zwar selbst Fotosynthese betreiben, ihren Baum jedoch als Quelle für Wasser und Nährsalze nutzen. Die Samen der Misteln gelangen mit dem Kot von Vögeln selbst auf höchste Äste. Dort keimen sie, und der Sämling bohrt spitze, kegelförmige Auswüchse in die Unterlage. Mit Hilfe dieser so genannten Haustorien saugen die Misteln Wasser und Nährstoffe aus den Leitungsbahnen der Wirtsbäume. Im Extremfall kann starker Mistelbewuchs dazu führen, dass einzelne Zweige vertrocknen. Darüber hinaus werden die Misteln ihrem Wirtsbaum jedoch keinen Schaden zufügen.

Ihre zahlreichen Bewohner zeigen, dass Bäume nicht nur einen Lebensraum besiedeln, sondern auch ihrerseits Raum für viele andere Arten bieten. Obwohl der Bewuchs heimischer Bäume sich kaum mit den Epiphyten tropischer Regionen messen kann, ist die Vielfalt auch hierzulande groß und immer einen zweiten Blick wert. -rh-



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