Die Seherin vom Rhein – Hildegard von Bingen
Eine der schon zu ihren Lebzeiten berühmtesten und angesehensten Frauen des Hochmittelalters war die Benediktinerin Hildegard von Bingen.
Eine Edelfreie als Äbtissin
Geboren wurde sie um 1098 im rheinhessischen Bermersheim in eine edelfreie Familie: Sie stammte aus einem uralten, dynastischen Adelsgeschlecht. Als zehntes Kind war sie für eine kirchliche Laufbahn bestimmt. Zusammen mit ihrer älteren Freundin und Lehrmeisterin Jutta von Sponheim kam sie im damals üblichen Alter von acht Jahren in das Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg. Zu dieser Zeit war es nichts Außergewöhnliches, dass Männer und Frauen gemeinsam in einem Kloster
untergebracht waren. Nach Juttas Tod übernahm Hildegard 1136 als Oberin die Führung des Nonnenklosters, was Abt Kuno ein Dorn im Auge war. Immer wieder kam es zu Streitigkeiten zwischen den Mönchen und Nonnen, denn Hildegard lockerte die strengen klösterlichen Vorschriften. Sie wollte ein eigenes Nonnenkloster gründen, was der Abt strengstens ablehnte. Er rechnete nämlich mit dem Verlust des Ansehens seiner Abtei, falls Hildegard mit ihren Nonnen fortzog. Zwischen 1147 und 1150 konnte sie jedoch endlich den Grundstein für ein eigenes Benediktinerinnenkloster auf dem
Rupertsberg legen.
Seherin und Prophetin vom Rhein
Seit 1141 hatte Hildegard Visionen, durch die sie große Popularität erlangte. Mit der Erlaubnis von Papst Eugen III. lies sie diese in Latein aufschreiben. Sie war die erste Nonne, die öffentliche Predigten abhielt, welche bei Adel, Klerus und dem einfachen Volk großen Anklang fanden. Auch in vielen Briefen kritisierte oder lobte sie die Verhaltensweisen der kirchlichen und weltlichen Führer.
Die erste Ärztin im Mittelalter
Neben ihren theologischen Schriften beschäftigte sie sich ausgiebig mit der heilenden Wirkung von Pflanzen. Ihre bekanntesten Bücher sind „Causae et Curae“ (zu Deutsch „Ursache und Heilung“) von Krankheiten und „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“ (zu Deutsch „Buch vom inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Lebewesen“). In diesen Büchern trug sie das damals bekannte Wissen der Klostermedizin zusammen und verband es mit den Heilmitteln des einfachen Volkes. Über allem stand jedoch ihr tiefer Glaube, dass nur Gott alleine Leid, Krankheiten und
Not heilen und der Mensch durch gute Taten und aufopferungsvolle Hinwendung zu Gott genesen konnte.
Die Alraune – nicht nur Teufelswurzel
Seit jeher gilt die Alraune (botanisch Mandragora officinarum) als eine Wurzel, mit der man den Teufel beschwören kann. Spätestens seit Harry Potter ist auch ihre Gestalt bekannt: Durch ihre gliederartigen Auswüchse erinnert sie an den menschlichen Körper. Schreien kann sie aber tatsächlich nicht, wenn man sie aus dem Boden zieht. Hildegard von Bingen schrieb im ersten Buch ihrer „Physica. De Plantis“ (zu Deutsch: „Naturkunde. Über die Pflanzen“), dass ein Mann zur Beruhigung die weibliche Gestalt einer Alraunenwurzel für drei Tage bei sich tragen sollte.
Pflanzen in Hildegards Kräutergarten
Galgant (Alpinia officinarum) half bei Fieber, Husten, Lungenproblemen, aber auch schwachem Kreislauf und Verstopfung. Die zermahlene Wurzel des Meisterwurz (Peucedanum ostruthium) mit Wein vermischt war ein fiebersenkendes Mittel. Quendel (Thymus serpyllum) ist mit dem Thymian verwandt und wurde als Sud gegen Kopfschmerzen und Husten eingesetzt. Außerdem heilte eine Tinktur aus Quendelblättern nässende Ekzeme und andere Hautkrankheiten. Mit Bertram (Anacyclus pyrethrum) würzte Hildegard von Bingen ihre Speisen, denn dieser sollte verdauungsfördernd sein und den Magen beruhigen.
Angesehen und umstritten zugleich
In ihrer Zeit als Äbtissin von Rupertsberg legte sich die Benediktinerin immer wieder mit den Mächtigen des Reiches an. Das hielt viele Adelige jedoch nicht ab, ihr reiche Besitzungen zu vererben, so dass sie 1165 aus der Augustinerabtei in Eibingen ein Nonnenkloster machen konnte. Mit 82 Jahren starb Hildegard von Bingen am 17. September 1179. Bis heute ist ihre Faszination ungebrochen. Neuzeitliche Mystiker und Kräuterinteressierte begeben sich auf ihre Spuren und haben die Prophetin vom Rhein somit zu einer der berühmtesten Gestalten des Hochmittelalters gemacht.
Die nächsten Folgen beschäftigen sich mit dem Wissen um die Heilkräuter und Naturmedizin der alten Mittel- und Südamerikanischen Hochkulturen. Ein anderer Kontinent und andere Pflanzen – die Maya, Azteken und Inka waren erfahrene Heilpflanzenexperten. -yl-
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