Ginkgo und Wolf: Inselsein oder vom Wert der Freundschaft (3
"Ich war eine Insel.", sagte Ginkgo eines Tages.
Er sagte dies zu niemand bestimmten und doch schien dahinter mehr zu stecken, als nur eine simple Feststellung.
Wolf, der unter seiner Krone ein kleines Nickerchen gehalten hatte, stellte ein Ohr auf. "Bekanntermaßen ist das große Wasser nun fort.", erwiderte er gelassen.
Tatsächlich hatte sich der gewaltige See vor einiger Zeit zurückgezogen, das Wasser war in sein Bett zurückgekehrt, wenn auch nicht ohne eine Spur er Verwüstung zurückzulassen. Wolfs ehemalige Höhle war verschlämmt und nach seinen Maßstäben unbewohnbar. Wenn er nun nach einem Ort der Ruhe suchte, war es Ginkgos Hügel oder ein anderes Plätzchen in nächster Nähe zu dem Baum.
"Das meine ich nicht." Ginkgo raschelte mit den Zweigen. "Ich war auch vorher eine Insel."
Wolf setzte sich auf, die Stirn verwirrt in Falten gelegt. So hatte er Ginkgo ja noch nie erlebt. Was mochte nur in ihn gefahren sein?
"Ich trieb im endlosen Ozean aus Nichts", sprach der Baum versonnen weiter, "und es wäre sicher auch dabei geblieben, wenn du nicht gekommen wärst und bei mir angelandet hättest."
"Ich?", wiederholte Wolf irritiert.
"Du", bekräftigte Ginkgo bestimmt.
Wolf ließ den Blick über den Hügel schweifen, auf dem sie sich befanden. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, die Anhöhe mit einem von Wasser umschlossenen Eiland zu vergleichen – auch wenn der Gedanke nach dem Erlebten als gar nicht mehr so abwegig erschien. Dennoch: Irgendwie schien es ihm, als wäre selbst das nur die Spitze des Eisbergs; als meinte Ginkgo eigentlich etwas ganz anderes.
Verwundert über so viel ungewohntes, tiefgründiges Gespräch kratzte sich Wolf hinter den Ohren.
Ginkgo schien seine Verwunderung zu spüren.
"Hast du dich denn nie gefragt, was geschehen wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären?", fragte der Baum melancholisch.
"Dann würde ich wahrscheinlich unter einer taubstummen Linde hocken.", schlug Wolf schelmisch vor.
Doch Ginkgo lachte nicht. Bei so viel Ernst in der Luft duckte sich Wolf ab.
"Schon möglich.", stimmte der Baum traurig zu. "Und ich stünde in einer Gartenparzelle und wäre pausenlos allein." Ein trostloses Rascheln folgte. "Du hättest wirklich einen anderen Baum wählen können.", fügte Ginkgo etwas heftiger zu. "Warum also mich?"
Wolf starrte auf seine Pfoten. Er wusste warum. Die Erinnerung an diesen Tag war noch immer sehr lebendig in ihm.
Er war auf der Suche nach einem Schattenspender gewesen. Deshalb war er in den Baumwald gekommen. Viele Bäume hatte es dort gegeben. Tannen, Kiefern, Kastanien, Weiden, Lärchen. Große, kleine. Für kühlen und für trockenen Schatten.
Wolf erinnerte sich, wie er unsicher zwischen den Bäumen umhergeschlichen war. Er hatte sich nicht entscheiden können. Er hatte Angst vor Fehlentscheidungen gehabt.
Ein ums andere Mal hatte er zu einem der Bäume aufgeblickt und dann wieder furchtsam zur Seite geschaut. Sein Urteil war ihm mit jedem Moment schwerer gefallen.
Doch dann hatte er ihn gesehen.
Wie angewurzelt war er stehen geblieben. Ihm war es erschienen, als ob ein inneres Licht aus dem Ginkgo erstrahlte und alle anderen Gehölze in den Schatten stellte. Wie ein Nachtfalter wurde er von diesem Licht angezogen und er wusste sofort: Dieser Baum war es. Kein anderer.
In tiefster Verbundenheit hatte er seine Stirn an die Borke des jungen Stammes gedrückt. Und da war es ihm gewesen, als ob ein unbeschreibliches Glücksgefühl seinen Körper durchflutete. Vielleicht hatte er damals schon gewusst, was für einen Schatz er da gefunden hatte.
"Du hast deinen Kopf an mich gelehnt.", sagte Ginkgo da plötzlich, als hätte er Wolfs Gedanken erraten.
Wolf kniff glücklich die Augen zusammen. "Jaa...", stimmte er gedehnt zu.
Eine Pause entstand, wo jeder der beiden an nichts Bestimmtes dachte und nur darauf wartete, dass der andere fortfuhr. Schließlich war es Ginkgo, der dem Gespräch neues Leben einhauchte.
"Ich war einer von hunderttausenden und trotzdem hast du mich gewählt."
"Ich hab das Licht gesehen.", erklärte Wolf vorsichtig. "Du schienst mich zu rufen."
"Wie merkwürdig...", überlegte Ginkgo, "habe ich doch damals kein Wörtchen an dich gewandt. Wusste ich nach dem Pflanzen, ob du bliebest? Du erschienst mir wie einer von hunderttausend Wölfen und unter diesen auch noch völlig gleich."
Wolf stellten sich die Nackenhaare auf, doch wusste er, dass Ginkgo durchaus recht hatte mit dieser Sache. Wer war er schon gewesen, damals?
Nur ein Suchender...
"Doch dann haben wir uns öfter gesehen.", erzählte Ginkgo weiter. "Du brachtest Wasser an heißen Tagen und ruhtest unter meiner Krone. Ich begann mich zu fragen, wer du bist."
"Und weißt du es?", erwiderte Wolf.
Ginkgo schwieg unentschlossen.
"Ein Wolf vielleicht?", schlug Wolf vor.
"Das erklärt, was du bist", stellte Ginkgo klar, "aber nicht, wer du bist."
Wolf dachte kurz darüber nach. "Klingt einleuchtend. Aber, wer bin ich dann?"
"Du warst eine Insel."
"Ja, das stimmt wohl...", als er an die Zeit zurückdachte, bevor er Ginkgo gekannt hatte. Da war er noch ganz allein für sich gewesen.
"Irgendjemand unter hunderttausend anderen Irgendjemandes."
"Ja, das ist wahr.", stimmte Wolf zu.
"Ich war auch eine Insel.", sagte Ginkgo und Wolf nickte, da er die Bedeutung, den tieferen Sinn der Worte endlich verstand.
"Ja, eine Insel...", wiederholte er zustimmend.
Wieder hingen sie einige Augenblicke lang den Gedanken an früher nach.
"Doch mit der Zeit wurden wir uns immer vertrauter. Wir begannen einander zu brauchen."
Wolf konnte Ginkgo wiederum nur Recht geben. Er kannte das Gefühl des Verlustes und die Freude, wenn er endlich wieder mit Ginkgo vereint war. Und auch die Sorge, als das große Wasser ihn auf seinem Hügel zu verschlingen drohte. Und die Entschlossenheit, mit der er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, um ihn zu retten.
Da spürte er wie eine Welle der Wärme ihn durchströmte. Dieses Gefühl war so wunderbar, viel besser als alles, was er jemals gefühlt hatte. Doch kannte er dafür keinen Namen.
"Nun sind wir einander wichtig.", stellte Ginkgo fest. "Du bist für mich einmalig unter hunderttausenden Wölfen. Wenn der Wind durch das Gras weht und es in Wellen in Bewegung setzt, denke ich daran, wie er mit deinem Fell das gleiche macht. Ich sehe das Gras und denke an dich."
Wolf blickte den Hügel hinunter und ließ seinen Blick über die Wiese schweifen. Er wedelte mit dem Schwanz, dann sagte er: "Wenn ich die Blätter der Bäume über mir im Winde rauschen höre, dann stelle ich mir vor, es wären die deinen. Ihre Schatten werden zu deinen Schatten. Doch ist das nicht das Gleiche. Deine Gedanken fehlen. Das Licht, das dich einmalig unter hunderttausenden anderen macht."
Und wieder schien es Wolf, als könnte er dieses Licht sehen, das Ginkgo aus seinem tiefsten Inneren erhellte. Da wusste er, dass der Baum genauso fühlte wie er.
"Wie nennt man das?", fragte er und meinte damit den wundersamen Gefühlszustand, in dem er sich befand. "Gibt es einen Ausdruck dafür?"
"Natürlich", antwortete Ginkgo sanft. "Es gibt für alles bezaubernde Worte."
Wolf blinzelte Ginkgo wissbegierig an.
"Man nennt es Freundschaft.", sagte der Baum freundlich. "Man kann es gegen nichts auf der Welt eintauschen. Sein Wert ist unvorstellbar und unendlich kostbar."
Das glaubte ihm Wolf aufs Wort. Endlich hatte er einen Namen für das schöne Gefühl in seinem Bauch. Zufrieden rollte er sich zu Ginkgos Fuße ein.
"Ich würde es niemals für etwas anderes eintauschen wollen.", murmelte er noch, bevor er in seine Traumwelt abdriftete.
Ginkgo raschelte fröhlich mit den Zweigen. Es freute ihn, dass Wolf vom Wert ihrer Freundschaft so überzeugt war. Dann blickte er dem aufkeimenden neuen Tag entgegen. In ferner Zukunft sah er ihr gegenseitiges Vertrauen nur noch größer werden.