Blog von GinkgoWolf

Ginkgo und Wolf: das große Wasser (2)



Wolf hatte eine furchtbare Nacht hinter sich.
Im Stockfinsteren seiner Höhle war es ihm, als hörte er Wasser rauschen. Zum frühen Morgen hin schien das Wasser aus seinen Träumen Wirklichkeit geworden zu sein. Er erwachte davon, dass es bereits an seinen Flanken leckte. Zunächst hatte er keine Ahnung, wie hoch das Wasser schon in seiner Höhle stand. Doch als er sich vorsichtig aufraffte, stellte er mit Erschrecken fest, dass sein Bauchfell klitschnass war. Und in seinem sonst wunderschön weichen Pelz klebte eine schwere Schlammkruste, wo der Höhlenboden durch das viele Wasser aufgeweicht worden war. Das Wasser schien rasant anzusteigen.
Ich muss hier raus!, dachte Wolf. Und zwar schnell!
Nur wohin?
Wolf wand sich hin und her. Sein Schlafplatz lag tiefer als der Gang, der nach draußen führte.
Wenn das Wasser hier bereits steht, ist da kein Durchkommen mehr möglich.
Fieberhaft dachte Wolf nach. Er konnte sich besseres vorstellen, als unter der Erde zu ertrinken. Das Wasser schwappte bereits an seinen Seiten. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Er musste versuchen, sich seinen Weg freizugraben. Das war die einzige Möglichkeit. Verzweifelt machte er sich ans Werk. Als er schon glaubte, er würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen, gab die Erde unter seinen kratzenden Pfoten nach. In dicken Brocken krümelte sie über seinen Pelz.
Kann mir auch egal sein, dachte Wolf müde, dreckig war ich eh‘ schon.
Verbissen kämpfte er gegen steigendes Wasser und bröcklige Erde. Endlich nach weiteren bangen Momenten brach er durch die Decke und begann sich sofort durch das entstandene Loch zu quetschen.
Ich sollte vielleicht weniger futtern, sonst hab ich nächstens bei solchen Aktionen keine Chance mehr, überlegte Wolf, als er endlich nach reichlich Mühen draußen angelangt war. Erschöpft ließ er sich zu Boden fallen. Er war müde, bis ins Unkenntliche verdreckt – aber er lebte noch.
Wo war nur das Wasser hergekommen? Und so viel auf einmal? Sonst regnete es nur in seltenen Fällen in seine Höhle hinein. Zitternd erhob er sich und schlug sich in die Büsche. Er wollte wissen, weshalb er so unsanft geweckt worden war. Verdattert blieb er stehen. Wo der Eingang zu seiner Höhle lag, war jetzt nichts.
Nur Wasser.
Au Backe! Was ist denn hier los?, schrak Wolf zusammen.



So weit sein Blick reichte, breitete sich ein riesiger See aus. Und das Wasser schein weiter anzusteigen, umschmeichelte es bereits Wolfs Vorderpfoten. Doch der hatte nun ganz andere Sorgen. Mit den Gedanken war er schon bei einem ganz bestimmten Baum.

"Ginkgo! Ich muss zu Ginkgo! Jetzt sofort!"
Wie der Blitz rannte er los.
Hoffentlich komme ich nicht zu spät!, dachte er verzweifelt.
So schnell wie in diesem Augenblick war er bisher selten gerannt. Doch er wollte um keinen Preis der Welt zu spät dran sein. Die Bäume wichen zurück, gaben die Lichtung frei. Ginkgo stand wie immer auf seiner leichten Anhöhe und ließ seine Blätter vom Wind streicheln. Nirgends stand hier Wasser, sah man mal vom nahen Teich ab. Es schien, als wäre alles Erlebte ein böser Alptraum gewesen. Doch sein dreckverkrustetes Fell, das nun in alle Richtungen abstand, erinnerte Wolf an den Wahrheitsgehalt.

Er zwang sich langsamer zu gehen. Wie ein verrückter Wirbelsturm sollte er wohl nicht gerade heranfegen. Außerdem regte er sich vielleicht nur umsonst auf und das Wasser betraf nur ihn. Schon von weitem wurde er von munterem Zwitschern begrüßt. Ginkgo flüsterte mal wieder mit den Meisen. Die kleinen Vögel hüpften ausgelassen durch seine Krone. Sollen sie doch!, murmelte Wolf. Ginkgo hatte sich bisher mit jedem angefreundet. Auch wenn es ihm nicht ganz gefiel, konnte Wolf nichts dagegen tun.
Eine kleine Meise entdeckte ihn, wie er den Hügel hinaufkam und flatterte belustigt zwitschernd in den oberen Kronenteil.
Himmel! Sie müssen mich für einen daher gelaufenen Landstreicher halten!
Doch nun war es bereits zu spät. Wenn er jetzt nicht hinginge, konnte er sicher sein, würde Ginkgo von den Meislein alles erfahren – ob es nun stimmte oder nicht.



Schweigend kam er zu Ginkgo getappt. Er hörte die Meisen in seiner Krone kichern und stellte fest, dass auch Ginkgo vergnügt mit den Zweigen raschelte. Aber offenbar sprachen sie nicht über ihn.
Mir soll’s recht sein, dachte Wolf. Er spürte wie die Müdigkeit ihn ergriff. Er lehnte seinen struppigen Pelz an Ginkgos Stamm. Versonnen rieb er sich an der griffigen Borke.
"Würdest du bitte sofort damit aufhören!", erklang da plötzlich Ginkgos aufgebrachte Stimme.
Aus seinen Tagträumen geschreckt, blickte Wolf auf. Es irritierte ihn, dass Ginkgo ihn quasi aus heiterem Himmel anfuhr.
"Du schmierst schon die ganze Zeit über meinen Stamm mit deinem Modder ein!", empörte sich der Baum.
Wolf blinzelte, betrachtete die verschmierte Borke und seinen eigenen Pelz, an dem zwar noch Reste seiner nächtlichen Flucht hingen, aber eben nur noch Reste. Der eigentlich Teil klebte an Ginkgos Stamm oder lag daneben.
"'Tschuldigung", nuschelte Wolf und blickte verschämt zur Seite, "es fühlt sich bloß so komisch an, Dreck im Fell zu haben."
"Das macht dich noch lange nicht erhaben darüber, mich als dein persönliches Putztuch zu missbrauchen!"
Irgendwo kicherte es.
Die Meisen!
Natürlich. Wolf hatte ganz vergessen, dass diese kleinen Federbälle immer noch in den obersten Ästen von Ginkgo saßen. Sie sollten nur nicht glauben, er könnte sich nicht ordentlich putzen!
"In meinen Bau muss es über Nacht reingeregnet haben", versuchte er eine plausible Erklärung darzubringen.
"Wohl kaum.", entgegnete Ginkgo nüchtern. "Es hat seit Tagen nicht mehr geregnet. Es ist dir eher reingelaufen. "
Daraufhin zuckte Wolf mit den Ohren. Hieß das etwa, dass Ginkgo bereits von dem vielen Wasser wusste?
Wieder kicherte jemand.

"Jetzt langt’s aber mal!", brauste er auf, woraufhin die ganze Wolke davonschwebte. Diese verdammten Vögel, ärgerte sich Wolf, als die letzte Meise irgendwo am Himmel verschwand.
"Du hast also ein nächtliches Bad genommen?", spöttelte Ginkgo. "Ich hab sowieso nie verstanden, weshalb du ausgerechnet unter der Erde schlafen musst."
Mit Sicherheit werde ich das auch nie mehr tun, dachte Wolf verbittert. "Haben dir die Vögel vom großen Wasser gezwitschert?", fragte er stattdessen.
"Das haben sie.", bestätigte Ginkgo mit Besorgnis in der Stimme. "Und sie haben auch gesagt, dass das noch nicht alles ist."
"Was denn, da kommt noch mehr?", rief Wolf entsetzt.
"Scheint so." Nun raschelte Ginkgo wirklich sorgenvoll mit den Blättern.
Die Aussicht auf noch mehr Wasser verdüsterte Wolfs Gedanken. Er spürte förmlich wie seine Stimmung sank. Er legte den Kopf auf die Pfoten und schaute in die Ferne. Wo sollte das nur hinführen? Vertrieben aus seiner Höhle, fühlte er sich jetzt schon heimatlos.



"Woran denkst du gerade?"
"Dass ich mir bestimmt noch eine Erkältung einfange, wenn ich nun jedes Mal zu dir schwimmen sollte.", antwortete Wolf.
"Ist das etwa deine einzige Sorge?" Ginkgo klang furchtbar enttäuscht.
"Warum denn nicht?", schlug Wolf zurück. "Jedem darf ja wohl seine eigene Gesundheit am Herzen liegen."
"Fürwahr, sollte es das sein.", seufzte der Baum betrübt.
"Darf ich dich daran erinnern, dass du auf einem Hügel stehst?"
"Jeder Hügel taucht irgendwann unter Wasser. Kleine wie große. Als wenn das mein geringstes Problem wär.", entgegnete der Baum spitz. "Meine weichen, fleischigen Wurzeln werden schon vorher Schaden nehmen, ganz egal, ob das Wasser den Hügel hinaufkommt oder nicht. Sie werden einfach ersticken und faulen. Und ich werde verhungern."

Ginkgo war schon immer ein bisschen sensibel gewesen, aber hierbei schien es sich um echte Sorge zu handeln. Wolf dachte unwillkürlich daran, wie er sich gerade noch rechtzeitig aus seiner gefluteten Höhle befreit hatte. Konnte es wirklich noch schlimmer kommen?
"Ein Damm würde vielleicht etwas bringen. Oder ein Graben, damit das Wasser abfließt."
"Zu viel Aufwand in zu kurzer Zeit.", erwiderte Ginkgo.
Wolf blickte zu ihm herüber. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er laut gesprochen hatte. "Was schlägst du denn vor?"
"In früherer Zeit gab es mal jemanden, der ein großes Schiff gebaut haben soll", begann der Baum mit einem Mal zu erzählen. "Er hat von jedem Tier je zwei mitgenommen und auf diese Weise gerettet."
"Aha." Wolf wedelte einmal kurz mit dem Schwanz über den Boden. Diese Geschichte interessierte ihn brennend.
"Sie hieß die Arche Noah.", endete Ginkgo.
"Toll", sagte Wolf, "was ist denn ein Noah?"
"So hieß der Erbauer dieses Schiffes.", erklärte Ginkgo.
In Wolf begann eine Idee Gestalt anzunehmen. Er sprang auf.
"Jetzt hab ich’s!", rief er erfreut aus. "Ich bau auch so ein Schiff und dann sind wir beide in Sicherheit!"
"Nette Idee", urteilte Ginkgo, "aber du vergisst, mein Lieber, dass du keine Hände hast. Die wirst du aber brauchen."
Unsicher sah Wolf auf seine Pfoten. Daran hatte er nicht gedacht. Doch der Funke Begeisterung glomm sofort wieder in ihm auf. "Dann such ich diesen Noah und frag ihn, ob er uns auch ein solches Schiff baut."
"Noah ist schon lange tot.", stellte Ginkgo die Tatsachen richtig. "Du wirst ihn also nicht mehr fragen können."



Damit war Wolfs schöne Idee zunichte gemacht worden und er setzte sich geknickt auf sein Hinterteil.
"Außerdem hättest du mich kaum im Ganzen mitnehmen können. So tief eingewurzelt bin ich inzwischen schon."
Wolf blickte den Hügel hinunter auf die Bäume zu. Irgendwo dort breitete sich immer noch eine riesige Wasserlache aus. Und in absehbarer Zeit würde er es auch sehen. Er hatte keinen Grund irgendwo hinzugehen. Er konnte genauso gut hier sein.
"Dann bleibe ich hier. Was auch immer geschieht, ob das Wasser kommt oder nicht, ich werde hier sein."
"Das würdest du tun?", fragte Ginkgo erstaunt. Er hatte Wolf viele Male kommen und gehen sehen, dass er sein jetziges Versprechen stets bei ihm zu bleiben als etwas ganz Besonderes betrachtete.



"Natürlich.", bestätigte Wolf und kniff vor Behagen die Augen zusammen.
Da wusste Ginkgo, dass er einen wahren Freund gefunden hatte."Vielleicht steigt’s ja gar nicht so hoch.", murmelte er.
"Vielleicht.", gab Wolf zurück und rollte sich zu einem Schläfchen zusammen.
"Vielleicht.", wiederholte Ginkgo leise, um Wolfs Schlaf nicht zu stören. Und wie Wolfs Spiegelbild begann Ginkgo in sich selbst zu ruhen, während sein Freund unter seinem Blätterdach von neuen Geschichten träumte.

Denn so viel stand fest: Von diesem Tage an fing ihre gemeinsame Philosophie erst an.