Blog von GinkgoWolf

Ginkgo und Wolf: die Frage der eigenen Spezies (1)



Ein heißer Sommertag kann einem schon die Laune verderben, dachte Wolf, als er sich auf der Suche nach einem schattigen Ruheplätzchen von einem dürftigen Schattenfeld zum nächsten schleppte. Die Sonne brennt mir noch ein Loch in mein schönes Fell. Wölfe und Sommerhitze – das passt einfach nicht zusammen.

Endlich hatte er mit müden Schritten den Ginkgo-Baum erreicht, unter dessen dichter Krone er vor den allzu zudringlichen Sonnenstrahlen Schutz suchen wollte. Mit einem erleichterten Seufzen ließ er sich auf dem Schattenfleck nieder und schloss die Augen, um erst einmal tief durchzuatmen. Wie schön…



Seine Freude war jedoch nicht von allzu langer Dauer, denn schon hatte er das Gefühl, als ob ihn etwas blendete. Unsicher blinzelte er nach oben und wurde gewahr, dass die ehemals dichte Krone sich gelichtet hatte. Durch eines der Löcher kämpfte sich gerade die Sonne, um dann Wolf ärgern zu können. Wolf blinzelte nochmals, als er erkannte, was das Problem war.

"Dein Blätterdach ist wohl auch nicht mehr das, was es mal war.", stellte er laut fest.
"Das ist auch kein Wunder.", entgegnete da jemand plötzlich.
Erstaunt sah sich Wolf nach dem vermeintlichen Besitzer der Stimme um.
"Denn während du dich hier im Schatten räkelst – der übrigens bald keiner mehr ist – bin ich hier am Vertrocknen!"
Endlich wurde Wolf klar, dass die Stimme zu dem Ginkgo-Baum gehörte, unter dem er immer noch lag.
"Du redest!", brach es aus ihm heraus.

"Du bist ein Blitzmerker.", meinte der Baum trocken.
Wolf setzte sich auf und kratzte sich mit einer Hinterpfote am Ohr. Dabei murmelte er vor sich hin: "Die Hitze ist mir wohl zu Kopf gestiegen. Jetzt bilde ich mir schon ein, dass Bäume reden."
"Und ich hab immer gedacht, dass Höhere Säugetiere intelligent sind. Na ja, war wohl ein Trugschluss."
"Bitte was?", fragte Wolf verdutzt.
"Ja, ja, hast schon richtig gehört.", sagte die Stimme aus dem Baum. "Könntest du dich vielleicht mal ein bisschen befleißigen und mir was zu trinken geben?"

Wolf starrte den Baum an, als sähe er ihn heute zum ersten Mal. Ein Baum, der redet. Das habe ich ja noch nie erlebt, ging es ihm durch den Kopf. Zur Sicherheit zwickte er sich einmal in die Pfote.
"Hallo? Hat dich die Hitze schon ausgedörrt und mumifiziert?"
Verdammt, fluchte Wolf innerlich, der Baum spricht ja immer noch!
"Rede ich inzwischen mit einer Trockenleiche?"
"Was hast du gesagt?", fragte Wolf. Der Baum redet ja, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen!
"Ah, na endlich. Eine Reaktion!", rief die Stimme des Baumes und klang dabei fast schon euphorisch.



Für Wolf war das alles immer noch sehr befremdlich. Vielleicht ist das aber auch nur ein vorübergehendes Übel, überlegte er hoffnungsvoll. Morgen sieht das alles wahrscheinlich schon anders aus.
"Chähäm", räusperte sich da jemand. "Ich will ja deine komplizierten Gedankengänge nicht unterbrechen, aber könntest du wohl verstehen, dass ich mich gerade in einer absoluten Notlage befinde?"
"Was hast du denn, mein Hübscher?", fragte Wolf und versuchte ganz nebenbei ein zaghaftes Lächeln – obgleich er sich nicht sicher war, ob das einem Baum überhaupt auffallen konnte.
"Demnächst keine Blätter mehr.", antwortete der Baum schnippisch. "Außerdem heiße ich Ginkgo und nicht 'dein Hübscher'!"
Wolf zuckte verdattert mit den Ohren. Große Güte, dachte er, ist der empfindlich!

"Könntest du dich nun endlich mal auf die Pfoten machen und mir meine Tagesration Wasser geben? Die Gießkanne steht da drüben. Ich komme leider nicht selbst an sie ran, sonst hätte ich das Problem schon von allein aus der Welt geschafft."
Wolf sah in die gewiesene Richtung und entdeckte die Gießkanne in einiger Entfernung. Herrjemine, da muss ich ja mitten durch die Sonne!, schreckte er innerlich zurück. Allein bei dem Gedanken wurde ihm heißer.
"Würdest du dich vielleicht mal auf den Weg machen oder muss ich vorher noch vertrocknen und bleibende Schäden davontragen? Ein schöner Freund bist du!"
"Wie fändest du es denn, mich ein bisschen zu schonen?", entgegnete Wolf kühl. "Mir ist schon verteufelst warm und nun willst du mich auch noch durch die Sonne jagen, bloß damit du deinen Willen kriegst. Wie wär’s, wenn du mal deine Wurzeln anstrengst?"
"Die sind noch nicht lang genug, du Dummerjan!", erwiderte Ginkgo spitz. "Schließlich hast du mich erst vor ein paar Jahren im Herbst gepflanzt."
Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich eine andere Baumart genommen, die nicht so viel diskutiert – respektive gar nicht.

"Kommst du nun endlich in die Gänge und holst mir Wasser?"
Wolf sah abermals zur Gießkanne hinüber, dann sank er zu Boden. "Such dir einen anderen Dummen.", brummelte er.
"So nimmst du also deine Pflichten wahr!", schimpfte Ginkgo nun. "Hast du versprochen, mich immer jeden Tag zu gießen und heute, wo ich wirklich darauf angewiesen bin, weigerst du dich einfach deine Pflicht zu tun!"
Vielleicht sollte ich nächstens einfach mal die Klappe halten und keine großmütigen Versprechen verlauten lassen. "Lass mich endlich ausruhen.", bat Wolf leise.
"Ausruhen? Wovon denn?", verlangte Ginkgo zu wissen. "Ich will dir mal was sagen: Ich steh hier den lieben, langen Tag in der Sonne und produziere Tag für Tag kiloweise Sauerstoff, von denen du zufälligerweise auch profitierst. Ich kann mich zwischendurch nicht in den Schatten verdrücken. Mir bleibt nichts anderes als alle Poren dicht zu machen und auszuharren. Und wenn ich gar kein Wasser mehr habe, bin ich weg vom Fenster. Aber du hast dann auch keinen Schattenspender mehr."
Wolf setzte sich auf. Wenn ihm eins klar war, dann war es die Tatsache, dass Ginkgo nicht eher zu nerven aufhören würde, bis er endlich die ihm zustehende Wasserration bekommen hätte.



"Ich geh ja schon.", knurrte er.
"Schön, dass du endlich selbst zu dieser Ansicht gekommen bist."
Mit gesenkten Kopf trottete Wolf zur Gießkanne hinüber, stupste sie an und schielte skeptisch hinein. "Leer", verkündete er an Ginkgo gewandt.
"Wozu gibt es Wasserhähne?", erwiderte dieser.
Wolf verdrehte die Augen. Der Weg zum Wasserhahn war noch länger. Außerdem hab ich noch vom letzten Mal des Auf- und Zudrehens Zahnschmerzen. "Geht auch ausm Teich?"
"Aber nur ausnahmsweise."

Wolf rollte erneut mit den Augen, dann nahm er den Griff der Gießkanne zwischen die Zähne und trabte zum Teich, an dessen Ufer er Wasser in die Kann laufen ließ. Voll wie sie war, bekam sie Wolf kaum noch angehoben. Sonst lief er immer zweimal mit halbvoller Kanne, doch an diesem heißen Tag wollte er das möglichst schnell hinter sich haben. Vorsichtig tastete er sich schwankend den Weg zu Ginkgo zurück, wobei er darauf achten musste, nicht über seine eigenen Füße zu stolpern.
"Vorsichtig, vorsichtig!", rief Ginkgo hinüber und fast schien es, als wollte er Wolf die Kanne aus dem Maul zerren, damit er sie nicht doch noch versehentlich auskippen konnte.
Bei Ginkgo angekommen, schnappte Wolf nach Luft, dann merkte er an: "Sieh dich sicherheitshalber schon mal nach einem Stellvertreter für mich um. Ich glaube fast, dass meine Zähne Schaden genommen haben."
"Du wirst schon noch deine Rehe kauen können.", sagte Ginkgo beiläufig. "Los, gib mir das Wasser, ich bin am Verdursten!"

Wolf trat an die Gießkanne heran und begann das darin enthaltene Wasser portionsweise auszugießen. Ich muss mir einen anderen Ruheplatz suchen, stellte er fest, als sich die Erde auf der Baumscheibe verdunkelte, dabei lag sich das so bequem.
Schließlich war die Kanne leer und Ginkgo seufzte behaglich.
"Wie wär’s mit 'danke'?", schlug Wolf vor.
"Hast du doch bloß getan, weil ich hartnäckig geblieben bin.", meinte Ginkgo wichtigtuerisch. "Ansonsten stünde ich hier womöglich immer noch auf dem Trockenen."
Na toll! Undank ist der Welt Lohn. "Was hast du eigentlich gegen das Wasser aus dem Teich? Das ist genau dasselbe Regenwasser wie aus der Zisterne. Oder hast du Angst, dass dich die Mückenlarven an den Wurzeln kitzeln?"


"Selbst du solltest wissen, dass ich was Besonderes bin. Da ist mir das Beste gerade gut genug."
"Du? Was Besonderes?", fragte Wolf skeptisch. "Du bist ein Baum, und?"



"Meine Vorfahren", begann Ginkgo belehrend, "gab es schon, da war an die Spezies Wolf noch nicht einmal zu denken. Seither haben wir uns im Aussehen kaum verändert. Und das sind immerhin Jahrmillionen."
Wolf runzelte argwöhnisch die Stirn. Sollte er das glauben? Woher, bitte, wollte Ginkgo das wissen? Der war nie im Leben so alt.
"Tja, da staunst du, was?, sagte Ginkgo.
"Pfff…!", schnaubte Wolf. "Woher soll ich wissen, dass das stimmt? Du könntest mir ja sonst was erzählen."
"Es ist eine Frechheit, dass du mir unterstellst, ich würde dich anlügen!", brauste Ginkgo auf. "Aber bitte…! Kannst ja meinen Großonkel fragen. Der kann dir das von seinem Großvater bestätigen. Und dessen Großvater von…"
"Ja, ja, schon gut.", wehrte Wolf ab. "Wo finde ich ihn denn, deinen Großonkel?"
"In Japan. Er ist einer der bekanntesten Ginkgo-Bäume dort."
"Was denn, Japan?"
"Natürlich. Wir Ginkgos fallen ja auch nicht vom Himmel."
"Weißt du, wie weit das ist?"
"Du wolltest doch zu meinem Großonkel.", verteidigte sich Ginkgo.
"Hast sich schon erledigt.", sagte Wolf und legte sich auf die Erde nieder. "Japan ist viel zu groß, um ihn zu finden."
"Oh, das kann ich dir sagen: Er steht in Hiroshima neben einem Tempel. Du kannst dich quasi durchfragen, bis du dort ankommst. Jeder in Japan kennt den berühmten 'Ginkgo von Hiroshima'."
"Berühmt?", hakte Wolf nach.
"Ja, die Menschen haben dort Krieg gemacht und eine Atombombe abgeworfen. Die Explosion und Feuersbrunst fegte alles weg. Aber mein Großonkel ist ein Jahr später wieder ausgetrieben. Das hat den Betroffenen dort Mut gemacht. Sie verehren ihn noch heute."
"Man kann einen Baum verehren?", fragte Wolf zweifelnd.
"Sicher.", bestätigte Ginkgo. "In Japan, China und Korea werden für uns Tempel errichtet. Wir gelten als heilig."
"Das ist nichts allzu Herausragendes.", entgegnete Wolf. "In manchen Zeiten wurden wir Wölfe auch wie Götter verehrt."
"Aber ist das heute auch noch so?" Ginkgos Stimme klang, als würde er die Antwort bereits wissen.

Wolf blieb gelassen, ohne sich auch nur im Ansatz provozieren zu lassen. "Nein.", antwortete er. "Aber eurer eins frisst ja den Menschen auch keine Schafe."
"Fürwahr…", seufzte Ginkgo. "Wölfe wurden in Japan alle ausgerottet. Großonkel hat sie noch gekannt – als er noch jünger war, natürlich."
"Tja, euch Ginkgos mögen sie alle", sprach Wolf sarkastisch, "aber wir Wölfe polarisieren. Entweder werden wir abgrundtief gehasst oder abgöttisch geliebt. Da gibt es nichts dazwischen. Ehrlich, ich weiß nicht, was mir lieber wäre."
"Heißt das, euch Wölfe hasst man, weil ihr eben Wölfe seid?", fragte Ginkgo neugierig.
"Genau. Und weil wir Haustiere reißen oder Hirsche jagen, die der Jäger für sich haben will, nachts schaurig heulen und womöglich kleine Kinder fressen."
"Und? Tust du's?"
"Menschen sind mir nicht ganz geheuer, wenn ich ehrlich sein soll. Schafe fresse ich nur, wenn sie leicht erreichbar sind. Hirsche muss ich aber jagen, denn ansonsten müsste ich ja verhungern. Und was das Heulen betrifft: Ich kenne keine schönere Musik. Soll ich dir mal was vorsingen?"
"Vielleicht später.", lehnte Ginkgo ab. "Stimmt es eigentlich, dass Wölfe den Mond anheulen?"
"Keine Ahnung, was Wölfe so tun. Ich heule jedenfalls nicht den Mond an. Ich heule, damit andere Wölfe wissen, dass das hier mein Revier ist."
"Aha."



"Weißt du, ich würde gern mit dir tauschen.", gestand Wolf zögerlich. "Dich mögen sie so wie du bist."
"Ich glaube kaum, dass du das wirklich willst.", erwiderte Ginkgo nüchtern. "Es fängt ja schon allein damit an, dass du keinen einzigen Moment vom Fleck kommst. Du stehst eben da und bist dabei den Elementen ausgeliefert. Die Sonne brennt auf mich nieder, so dass ich gezwungen bin, alle Poren zu schließen und auf kühleres Wetter zu hoffen. Starker Wind zerrt an meinen Blättern und Hagelkörner schlagen Löcher hinein. Auch Winterkälte macht mir zu schaffen. Meine Wurzeln und jungen Knospen sind da sehr empfindlich, weißt du? Und dann ist es jeden Tag derselbe Trott: Wasser ziehen und Nährstoffe aufnehmen und daraus Zucker herstellen. Dabei kann man sich schon zu Tode langweilen, besonders wenn man keinen zum Reden hat."

Während Ginkgos anhaltender Rede hatte Wolf immer mehr den Mut verloren. Doch bei der letzten Offenbarung, die Ginkgo von sich gab, horchte er auf. Dieser Baum mag zwar ein ziemlicher Besserwisser zu sein, aber eigentlich ist er auch irgendwie ganz in Ordnung. "Das kann man ändern.", sagte Wolf fröhlich. "Ich freu mich auch, wenn ich jemanden zum Reden hab. Lass uns doch Freunde sein."
"Aber nur, wenn du mich dabei nicht zu gießen vergisst.", erinnerte Ginkgo.
Das ist ja wieder typisch, dachte Wolf augenrollend. "Jaa… und du kriegst auch dein Zisternenwasser. Aber an heißen Tagen wie diesen komm ich lieber spätabends. Einverstanden?"
"Ja, gut.", willigte Ginkgo ein.

Ginkgo und Wolf wurden tatsächlich gute Freunde. Sicher, sie gingen sich an manchen Tagen so richtig auf den Keks, aber alsbald vertrugen sie sich wieder. Denn es gab eben nichts Schöneres, als mit jemand Nettes über Gott und die Welt zu schwatzen.