Blog von GinkgoWolf

Ginkgo und Wolf: Bifröst und das Darüber hinaus (4)



Der Wind hatte aufgefrischt.
Sein kühler Atem trieb die dicken Wolken vor sich her, umspielte die Spiegel der nahen Wasserflächen, in dem er die Wellen tosend, stürmischer See nachzeichnete, zog weiter und erreichte schließlich einen Baum auf einer Anhöhe. Hier glitt er eilends den Stamm hinauf, umschmeichelte die Äste und griff schließlich nach einem einzeln flatternden Blatt. Er riss und zerrte daran, lockte und streichelte es, bis es sich in einer seiner Böen vom Zweiglein loslöste und mit ihm davonzog. Es stieg dank ihm in schwindelerregende Höhen empor, segelte wie eine Feder über die Lande hinweg, vollführte Drehungen und Wendungen, bevor es in einer letzten zur Erde hinabstrebte. Da erfasste die Bö es erneut und warf es zum Hügel zurück, wo es schlussendlich zu Boden sank und auf Wolfs Nase landete.
Einen Moment erzitterte es dort, dann fuhr der Schläfrige auf.



Wolf schnaufte leise, als er sich blinzelnd umsah. Ihm war nicht ganz klar, was ihn geweckt hatte und er schaute umher auf der Suche danach. Der Wind zauste ihm den Pelz, als wollte er mit ihm spielen, doch Wolf beachtete ihn nicht.
Resigniert, dass er den Störenfried nicht ausmachen konnte, wollte er sich wieder zum Schlafe ausstrecken, da fiel sein Blick auf das Ginkgo-Blatt vor ihm. Überrascht, ein solches auf dem Boden statt am Baum vorzufinden, beugte er sich vor. In seinem Atem erzitterte es. Das Blatt wirkte in jeder Hinsicht vollkommen, bis auf die Tatsache, dass sein Platz an einem anderen Ort hätte sein müssen.
Wolf wandte den Kopf und richtete den Blick empor in die Krone des Ginkgo-Baumes, unter dem er sich bequem ausgestreckt. Der Wipfel hatte sich deutlich gelichtet, wirkte schüttert und erinnerte an einen armen Bettler mit wenig Kleidung am Leib. Erschrocken raffte sich Wolf auf.

"Ginkgo! Ginkgo, mein lieber Freund!", rief er den Baum an, während er dem Stamm die Schnauze entgegenstupste.
Es dauerte ein kleines Weilchen und Wolf war schon in heller Sorge, bis der Baum auf dessen Rufe reagierte.
"Jaa...", sagte eine leise Stimme. Ginkgo schien schläfrig, als hätte er bis eben tiefreichenden Gedanken nachgehangen.
"Ginkgo", sagte Wolf aufgeregt, "da ist ein Blatt von dir. Auf dem Boden." Wolf zeigte in die Richtung, wo das Blatt noch immer lag.
"Jaa...", murmelte Ginkgo gähnend.
"Es ist mir auf die Nase gefallen."
"Ohh... Tschuldigung.", sagte der Baum.
"Was macht dieses Blatt auf dem Boden? Warum ist es nicht in deiner Krone?", fragte Wolf. "Wo sind überhaupt all die Blätter deiner Krone?"
"Tjaa...", gähnte der Baum ein zweites Mal.
Das war Wolf nun doch sehr suspekt. Sein Freund verhielt sich wirklich sonderbar.
"Geht es dir gut?", hakte Wolf nach. Seine Stimme wurde von Panik ergriffen. "Du bist doch nicht krank, oder?" Er drückte sich an den Stamm und blinzelte in die lichte Krone des Baumes. "Sag doch etwas!"
"Ich spüre es."
"Was denn?"
"Das Versiegen der Lebensflüsse."
"Das...", Wolf schnappte nach Luft. Ginkgo war doch nicht etwa so sterbenskrank, dass er von ihm scheiden müsse? Das durfte nicht sein! Kein Schicksal konnte so grausam sein, ihm seinen besten Freund zu nehmen!
"Du kannst mich doch nicht verlassen!", schrie Wolf auf.
"Wer redet denn davon?", fragte Ginkgo mit neu erwachten Lebensgeistern.
"Na du!", antwortete Wolf prompt.

Einen Moment sinnierte der Baum darüber nach, dann erklärte er: "Du bist ein Dummerjan, Wolf." Spott drang an Wolfs Ohren und Ginkgos humoristische Herangehensweise beruhigte Wolf, statt ihn zu erzürnen. Wolf spitzte die Ohren. "Das Phänomen ist Jahr für Jahr dasselbe. Der Lebenssaft unsereins beginnt zu versiegen und unsere Blätter fallen zu Boden. Man nennt es meines Wissens nach 'Herbst'. Im Winter schlafen wir und im Frühjahr erwachen wir dann zu neuem Leben."
"Ach so." Wolf sah betreten auf seine Pfoten. Und er hatte Panik gemacht! Beschämt starrte er vor sich hin. "Dann bist du im Frühling wieder da?", fragte er vorsichtig.
"Natürlich."
"Ich brauche mir wirklich keine Sorgen zu machen?"
"Nein."
Wolf seufzte erleichtert und ließ sich zu Boden sinken.
"Was hättest du denn getan, wenn ich nicht mehr zurückgekommen wäre?", fragte Ginkgo mit plötzlich erwachtem Interesse.
"Ich hätte um dich geweint.", antwortete Wolf ohne Zögern. Er starrte in die Ferne, wo sich eine Wolkenbank aufbaute. Auch Ginkgo sah sie. "So lange hätte ich geweint.", murmelte Wolf traurig.
"Alle hätten geweint.", flüsterte Ginkgo leise. "Auch der Himmel."
"Wie kann der Himmel weinen?", zweifelte Wolf.
"Regentropfen sind nichts anderes als Himmelstränen.", sagte der Baum.
"Oh", staunte Wolf und beobachtete das Näherkommen der Wolken aufmerksam.

"Sternschnuppen sind nichts anderes als Tränen von Mond und Sonne. Es sind sterbende Sterne."
Wolf blinzelte bekümmert, als er das hörte. "Ich dachte immer, es wären wandernde Seelen oder Zeichen der Götter."
Ein rhythmisches Tropfen ertönte. Wolf brauchte kaum den Blick zu heben, um zu wissen, dass es der Regen war. Die Wolken waren genau über ihnen.
Bald hing Wolf das Fell in nassen Strähnen am Körper. Wenn dies tatsächlich Tränen des Himmels waren, dachte er, so waren sie in der Masse bleischwer. Es wunderte ihn nicht, dass man von dieser erdrückenden Schwere melancholisch wurde. Nun schaute er nach oben, blinzelte. Wie Male verliefen die Himmelstränen über sein Gesicht, ließen es leidgeplagt, gedrückt aussehen.
"Du weinst ja.", sagte Ginkgo überrascht.
"Ja", stöhnte Wolf bekümmert, "ja, ich weine."
Die Wolken zogen weiter, wurden fortgetrieben vom Wind. Wolf zitterte, als die frische Brise seinen durchnässten Körper traf. Er stand auf und schüttelte sich die unangenehme Nässe aus dem Fell, das die Tropfen nur so flogen.
Das Ginkgo-Blatt auf dem Boden war nun über und über mit Tropfen besetzt. Wie schön, dachte Wolf noch mit einem Blick darauf. Selbst im Dahinscheiden zeigte sich das Leben noch von seiner schönsten Seite.
Die Wolkendecke über ihnen riss auf. Ein Sonnenstrahl fand den Weg durch die Dickung und beleuchtete einen Ort entfernt von ihnen.
Ein Ziel des Lebens.
"Das ist die Hoffnung.", sagte Ginkgo unerwartet. "Es wird immer einen Weg geben, immer weiter gehen. Leben, das heißt in Bewegung zu sein."

Plötzlich merkte Wolf auf. "Schau mal.", flüsterte er.
Zwischen den tiefen Wolkenschleiern war ein Farbfleck erschienen, der immer größer wurde. Er wuchs stetig weiter, bis er schließlich in sanftem Kuss die Erde berührte.
"Bifröst, die Regenbogenbrücke.", murmelte Ginkgo fasziniert, bevor er mit Bestimmtheit sagte: "Jetzt geht wieder eine Seele hoch nach Asgard."
"Wohin?", fragte Wolf neugierig.
"Ins Himmelreich.", erklärte der Baum.
"Hm…", überlegte Wolf. "Wenn für unsereins die Zeit des Abschieds gekommen ist, zieht es uns nach Kaam, nicht nach Asgard.", stellte er fest.
"Wo liegt dieses Kaam?", wollte Ginkgo von seinem Freund wissen.
"Ich weiß nicht genau.", antwortete Wolf unsicher. "Wir nennen es einfach `die andere Seite´."
"Wie ist es dort wohl? Auf der anderen Seite?"
"Ich… weiß nicht.", gestand Wolf.
"Vielleicht ist dort nichts."
Wolf stellten sich unwillkürlich die Nackenhaare auf. "Ich fürchte nichts mehr als alles umfassende Stille, die Leere des Raums."
"Aber die Abwesenheit des Lebens bedeutet doch Leere.", sagte Ginkgo. "Wenn du nicht mehr bist, wie kannst du dich dann fürchten?"
Wolf überlegte kurz und erwiderte dann: "Du hast selbst davon gesprochen, dass die Seelen hoch nach Asgard gehen. Wenn ich noch eine Seele bin, wie kann ich dann nicht mehr sein?"
"Das, mein Lieber", entgegnete der Baum, "ist eine Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Wer könnte uns davon jemals berichten, der nicht für immer verschwunden ist?"
"Meinst du, es ist ein gutes Land? Auf der anderen Seite?", fragte Wolf. Es fiel ihm schwer sich über solch unbewiesene Dinge den Kopf zu zerbrechen, doch sein Interesse war geweckt.
"Möglich." Ginkgo schüttelte die Zweige. "Andere erzählen auch davon, dass die Seelen wiedergeboren werden und in andere Körper schlüpfen. Sie sind nicht fort, sie sind noch da."
"Wie kann das sein?", wunderte sich Wolf. "Als was sollte eine Seele schon wiedergeboren werden?"
"Ich habe Geschichten von Baumseelen gehört, die in alten Bäumen leben."
Darauf reagierte Wolf: "Bist du auch eine solche Baumseele?"
Ginkgo sagte nur: "Weiß ich’s?" und machte Wolf nicht schlauer.
"Zerbrich dir über so was nicht den Kopf.", meinte der Baum freundlich. "Erfreue dich am Jetzt. Schau nicht zu lange auf gestern und bettle nicht auf morgen. Alles kommt zu seiner Zeit."
"Ich werde da sein.", stellte Wolf klar.
"Wir werden uns wieder sehen.", pflichtete ihm Ginkgo bei. "Ganz bestimmt."


Ich widme diese Geschichte folgenden Personen:

Zuerst meinem Onkel. Leider war der Krebs stärker.
Dann meiner Oma. Du bist in Frieden von uns gegangen.
Und zu guter Letzt: Dana, einer ehemaligen Betreuerin aus meinem Freiwilligendienst, auf einer Bergtour verunglückt.

Ihr seid alle unvergessen.





Bearbeitet: 30x, zuletzt am 09.01.2018 - 16:43 Uhr